Warum Italien beim ESC so gut war – und Deutschland so schlecht

Gestern sind wohl einige Zuschauende aus den Latschen gekippt, als die italienische Band Måneskin auf die ESC Bühne trat. Auf den sozialen Netzwerken überschlagen sich die Lobeshymnen, viele sind überrascht.

Dabei hat man Italien’s Entwicklung beim ESC sehr deutlich die letzten Jahre verfolgen können.

Verabschiedung an die alte Zeit und Stigmas

Lange hat Italien das im ESC widergespiegelt, was Zuschauende erwarten.

National und international.

Klischeesongs, Klischeeinszenierungen, Klischeeoutfits, Klischeeinterpret*innen.

Es sollte um amore gehen, Männer in Anzügen, Klassik, Balladen, Rosen, alles was man eben auch heute noch in Filmen, Büchern und Co über Italien sieht.

Im Prinzip das, was heute noch dafür sorgt, dass Italiener*innen nicht ernst genommen werden außerhalb dieser Genres.

Doch zumindest das aufgeklärte, junge Italien strebt eine Repräsentation an, die eben einfach „zufällig“ italienisch ist und sonst: laut, individuell, divers, bunt. Kritisch gegen Missstände, deutlich gegen Feindlichkeit.

Das hat vor allem Mahmood 2019 gezeigt, dessen Song „Soldi“ ich heute noch rauf und runter höre.

Mahmood hat sich selbst gegen den international bekannten, traditionellen Sänger NEK im Vorentscheid durchgesetzt.

Auch wenn es immer leider immer noch viele Italiener*innen gibt, die weder BIPoC oder Personen aus der LGBT Community sehen wollen – Künstler*innen wie Mahmood und Måneskin finden langsam aber sicher Gehör.

Moderne Nostalgie

Die Band Måneskin ist zeitgemäß, hat aber ebenso einen nostalgischen Sound.

Mit dem können sich selbst die 60-70jährigen die den ESC noch schauen, identifizieren. Diese Zielgruppe kann z.B. mit Beiträgen von Island nicht so viel anfangen.

Auch für die Jüngeren ist die Band interessant, der Frontsänger hat z.B. die Lässigkeit eines genreübergreifenden Machine Gun Kelly und ist damit so aktuell wie nie.

Nicht costumy – aber costumy enough

Wer die Band 1975 nicht kennt, nun einmal bitte googeln. Måneskin hat genau diesen Style, nur musikalisch sowie modisch mit mehr Wumms und ohne unter das Prädikat „Hipster“ zu fallen.

Auch Rammstein Vergleiche bleiben aus, zu sehr erinnern ihre Outfits an die Zeit von Queen oder manchmal The Doors.

Wer mag, sollte sich unbedingt mal das IG Profil der Band anschauen und deren Fotoshoots. Gekonnt bewegen sie sich zwischen den Genres, weswegen sehr viele Zuschauende alleine was mit dem Stil anfangen können.

Das was sie tragen, würden die meisten von uns sich nicht trauen. Trotzdem ist es in seiner Aufgeregtheit immer noch an den richtigen Stellen reduziert, um nicht ins Schrille zu kippen. Damit bleibt die Band vor allem eines: authentisch.

Angry aber sympathisch

Italien’s Beitrag war wütend und blieb doch eher empowernd, statt klagend.

Außerdem schwang in allem eine mystery Aura mit (The Dark ähnlich).

Durch den gekonnten live Auftritt – man merkte allen ihren Spaß an OHNE dass sie ständig grinsten – schwang das nie ins distanzierte, unsympathische.

Auch Finnland hatte einen rockigen Beitrag. Gerade das war mir z.B. zu weit weg, zu kalt, zu 2010 schon zigmal gehört.

Måneskin dagegen schaffte am Abend den Spagat zwischen Starappeal und doch die „Musiker*innen von nebenan“, die sich den Erfolg hart erspielt hatten.

Der Song ist nicht so düster oder kalt, wie man vielleicht denkt. Das Akkordschema ECBGA ist typische für Blues aber auch inzwischen erfolgreichen Popsongs.

Show don’t tell

Italien’s Beitrag kam ohne eingeblendete Worte im Hintergrund aus, was beim ESC inzwischen eine Übersättigung hat.

Was die Band sang, verstanden die wenigsten, da auf Italienisch.

Die politische message steckte aber in der Band selbst:

Ethan che si era definito “sessualmente libero“, Victoria “bisessuale” e Thomas “eterosessuale”, così come Damiano, definitosi però come “un curiosone. Domattina mi voglio svegliare e…“.

Sanremo 2021, vincono i Maneskin davanti Fedez/Michielin – la classifica finale

Nagellack, skirts, crop Tops, hohe Schuhe und einfach mal den Gitarristen auf der Stage küssen? Klar, das ist im Rockbereich nichts Neues aber: Man merkt, das ist nicht gespielt oder nur alleine wegen eines Genres nun so konzipiert, sondern das sind 100% die Band.

Statt also toxic masculinity und Feindlichkeitssongs (oft im Glam rock, Metal, rock allgemein) kriegt man hier genau das Gegenteil.

Victoria ist Bassistin und wird von der Band/Management nicht als Zierde eingesetzt (wie so oft in diesen Genres) sondern für ihre Fähigkeiten gefeiert. Sie schmeisst sich z.B. live einfach auf den Boden, während sie spielt. Ich hab das mit meiner E-Git auch schon gemacht und erntete sehr befremdliche Blicke (ist man nicht gewohnt von Frauen).

Genau diese Barrieren will die Band durchbrechen. Da braucht es nichtmal Englische lyrics oder eine Übersetzung des Songs.

Die Band steht für Diversität, da sie auch mit den Erwartungen der Zuschauenden spielen, die außer vllt einen italienischen Popsong aus dem Urlaub und italienische Balladen nichts kennen.

Zahn der Zeit

Ich dachte zuerst, Disco Songs würden vllt gut gehen dieses Jahr (so hatten wohl auch viele Künstler*innen gedacht).

Aber: Die Leute sehnen sich vor allem nach Konzerten. Warum? Weil das alles vereint:

  • Live Musik
  • evtl. mit Freunden erleben
  • Individualität: Im Club empfinde ich es oft eher distanziert und die Abende diesselben, bei Konzerten redet man noch in 2 Jahren davon
  • Mitsingen zu Rockhymnen (durch die Krise waren wir oft leise oder für uns alleine), das geht nicht so zu Electro
  • support von Musikschaffenden

Måneskin hat genau das alles vereint.

Dass nach dem Gewinn natürlich erstmal alle über vermeintlichen Drogenkonsum des Frontmanns sprechen (dies wird aktuell überprüft), wundert mich gar nicht. Schließlich gehört es zur langen Tradition, Italien mit Drogen zu verbinden und Menschen Klischees anzuhängen, egal ob das jetzt so war oder nicht.

Selbst in Italien: Gegen den Trend

In Italien sehen die Charts ungefähr so wie unsere aus. Es gibt sehr viel Trap. Der ist gut gemacht und ich höre mir das gern an. Es ist mutig, genau gegen diesen Trend zu gehen und ein anderes Genre zu präsentieren.

In Italien wurde auf dem Sanremo Festivals zwischen 26 (!) Teilnehmenden ausgewählt. Die Musikschaffenden mussten sich also live gleichzeitig beweisen. Nicht immer ein Garant für Erfolg beim ESC – aber vorwerfen lassen kann man sich so eher weniger etwas.

Die giuria demoscopica sind zufällig ausgesuchte Zuschauende, 300 (!), die am Ende mitbewerten dürfen (33%). Bei Mahmood ging das fast schief, denn wie bereits erwähnt gibt es in Italien noch zu wenig Menschen, die für einen Italiener anrufen, der mixed ist. Nur wegen der Jurywertung vertrat er dann Italien und holte Platz 2. Das zeigt, dass das Publikumsvoting alleine nicht repräsentativ sein darf, denn gerade BIPoC bekommen – trotz gutem Song zu wenige Stimmen. Nicht anders war es bisher bei Künstler*innen, die nicht in die traditionellen, in Italien sehr konservativen rollen passten. Das ändert sich nun.

Was Deutschland also falsch gemacht hat?

Jendrik ist ein sympathischer Künstler und auch er steht für mehr Diversität. An sich kann man ihm nichts vorwerfen.

Trotzdem, ganz wie Peter Urban möchte ich diesen letzten Platz nicht schön reden.

Was bei Italien ein ewiger Auswahlprozess war, wurde (mal wieder) komplett hinter den Kulissen in Deutschland beschlossen. Nichtmal wir wussten, wer da eigentlich hin fährt. Warum macht man um Musikschaffende so lange so ein großes Rätsel und lernt nicht aus dem, was Raab damals gemacht hat? Sicher ist das anders in Zeiten der Pandemie, jedoch hätte es wenigstens eine Online Abstimmung geben können.

Songwriting

Die message im Song ist gut und wichtig.

Aber so umgesetzt, war das ein Garant für den (fast) letzten Platz.

Daran ist das Songwriting schuld.

„Was singt er da? Ich verstehe kein Wort.“ habe ich gedacht. Jendrik kam selbst kaum hinterher, er ist schließlich nicht Ed Sheeran. Zu schnell, zu viele Silben, zu hektisch.

Vielleicht war er deswegen ständig außer Atem und sang plötzlich so, als hätte er erst gestern Englisch gelernt. Das war einfach ZU VIEL des Guten. Wenn der Song schon im Musikvideo mit Erklärtafeln dargestellt werden muss, ist das vielleicht kein gutes Zeichen. Das KANN vielleicht mal gut gehen und funktionieren, aber Jendrik ist nicht Scatman.

YT

Step Einlagen und Co versprühen gute Laune – aber dürfen nicht so überfordern, dass der Gesang drunter leidet. Und das tat es leider.

Manchmal sind ja die einfachsten Songs am schwersten zu singen.

Taylor Swift macht’s vor

Was die Thematik angeht, haben wir einfach auch zu viele extrem gute, vergleichbare Hits:

  • Shake it off
  • You need to calm down

von Taylor Swift.

Es ist deutlich, dass der Song genau an diese Aussagen, ja sogar den Style angelehnt ist. Was also Taylor Swift machte war, sehr oft das Wort „Hate“ zu sagen, wie Jendrik. Bei ihr liegt die Klasse jedoch darin, dass die Überraschung des Liedes und damit die Melodie in der Wende steckt: Shake it off! Shake it off! oder auch das einfach sehr lässig gesungene „You need to calm down.“

Was Jendrik sich eventuell lässig und leicht gedacht hat „I just feel sorry“ hätte man genauso umsetzen müssen und zwar in der Melodie.

Zu sehr erinnerte mich die an einen quasi Schulhofsprechgesang der aber eher kindlich wirkte und damit nicht über ein „Bist du ja selber!“ oder „SPIIIEGEL!“ hinauskam. Alles steht und fällt mit der Melodie, ich frage mich wo sie war und durch wieviele Instanzen sie so abgesegnet wurde.

Dazu kamen Wörter die eben sehr schwer als ein Refrain zu singen sind:

Hate ist eben ein verdammt kurzes Wort, wenn man es nichtmal lang ziehen kann.

Spannungselement gab es keinen im ganzen Song. Das ist beachtlich und ernüchternd.

Inszenierung

Ich hoffe Jendrik verzeiht mir wenn ich sage, dass „I really don’t care that you want to bash me“ eben einfach nach 5te Klasse klingt. Ich hätte das vielleicht verziehen, wenn er alleine da mit seiner Ukulele gesessen wäre und das Lied in einem für ihn okayen Tempo gesungen hätte. Dann können so einfach Zeilen, auch umgangssprachliche, ebenso ihre Wirkung entfalten.

Aber was seine ehrliche Intention war, ging auf jeden Fall auf der Bühne dann komplett verloren. Man hätte das als eine Art Protestsong inszenieren können, nicht überladen mit albernen Figuren. Denn auch die kennen wir alle und sind nach Katy Perry dann auch schon wieder out und peinlich.

Alles lenkte vom sowieso schon schwer verständlichen Song ab. Die Kamera war quasi 50% des Songs auf dem Finger und dem Backgroundgesang.

Wie soll ich so eine Nähe zum Interpreten aufbauen? Zum Lied?

Denn gerade das MUSS man auch bei einem schnellen Song.

Mir kam es ein bisschen so vor, als wollte man unbedingt seine Musical Fähigkeiten einbauen: Jendrik kann Ukulele, sie sogar in die Luft werfen, tanzen, steppen, Paartanz (mit dem Finger?) und so weiter.

Als müsste er sich seinem Gegenüber doppelt beweisen, statt einfach wie Taylor ganz unaufgeregt zu sagen: „You need to calm down“. Gerade in diesem „Schau mal ich mache alles und verbiege mich dabei halb und habe soooo Spaß“ lag der Schwachpunkt des Liedes.

Jendrik glaubte ich was er sang, aber: Das war zu verkrampft, zu gewollt. Genau deshalb kam es bei mir auch zu keiner allzu guten Laune, trotz „Pfeif“Part und Saxophon.

Die Italiener*innen kamen auf die Bühne und waren total unverkrampft, authentisch, losgelöst und doch: Sie wollten gewinnen.

Sie erzählten eine Story, die jede*r verstand, denn: sie waren diese Story.

Popsongs müssen mehr denn je mit einer Attitude kommen, die auch wirklich „I don’t care“ darstellt.

Oder das genaue Gegenteil: Den Hass den man erfährt nicht weglachen zu müssen, sondern drauf hinzuweisen. Das Problem sollte so oder so nicht beim Verhalten des Empfangenden liegen (I don’t care Vs. I care), sonst landet man wahrscheinlich wieder dabei, Betroffenen zu sagen „Ach lach doch mal drüber.“ und „Nimm es dir nicht so zu Herzen.“ Wie Taylor schon meinte: YOU need to calm down. (Not I).

Letztendlich ist es aber gar nicht Jendrik, die Melodie oder das setting das es zu kritisieren gibt. Es ist wichtig, mehr Diversität zu sehen (egal WIE diese dann umgesetzt wird). Gerade als cis het müssen wir der LGBTQIA+ Community ebenso Raum für Songs geben, die einfach die letzten Plätze belegen. Auch zeigt die bereits erwähnte Party Show doch eines: Personen aus der Community haben es sicher mit moderateren Liedern versucht, wurden aber abgewiesen von ARD. Diese Personen dürfen nicht einfach nur wie cis m über Herzschmerz und Leid singen, ruhig auf einem Stuhl sitzend and that’s it. Und vielleicht wollen sie das auch gar nicht, denn egal welche Melodie ein Protest Song hat – es sollte keine Rolle spielen. Es gibt genug Künstler*innen in der Szene, die mit unterschiedlichen Songs punkten könnten, wir dürfen nur nicht nur eine Person auswählen und auf ihr alle Erwartungen legen, wie nun Diversität auszusehen und zu klingen hat.

2 Gedanken zu „Warum Italien beim ESC so gut war – und Deutschland so schlecht

  1. Tolle Analyse, complimenti! Wir kennen Måneskin bereits seit 2017, als wir sie bei X-Faktor sahen, blutjunge Hüpfer und damals schon professionell und authentisch. „Zitti e Buoni“ ist auch selbst geschrieben, trifft den Nerv der Zeit und offensichtlich nicht nur bei der italienischen Jugend genau ins Schwarze. Liebe Grüße aus Italien!

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