Das Scheitern von Nummer 81

Kantig und leicht fühlte es sich an. Und hätte es eine Farbe gegeben die seinen inneren Gemütszustand authentisch genug wiedergeben könnte, so wäre goltess wohl das trefflichste gewesen, was, so will ich betonen, nichts mit Begrifflichkeiten wie Gold oder etwa Goldmarie zu schaffen hat.

Denn Marie war seine Nachbarin, nichts weiter.

Er beschloss den heißgeliebten Gegenstand in das nur einmal benutzte, blaue Tüchlein einzuwickeln, gerade so, dass weder Staub, noch die Brotkrumen des gestrigen Tages einen Schaden anrichten konnten und die Umhüllung selbst keinerlei Grund zur Sorge aufkommen ließ. Froher Gesinnung kletterte er die Stufen zur Straße herab, ja, er störte sich nicht einmal an dem wuchernden, in sein Grundstück hineinragenden, Garten und pfiff ein Liedchen während er so ganz und gar nicht wusste und sich auch nicht erinnern konnte warum er eigentlich aus dem Haus gegangen war. Gewiss, er sollte doch längst bei der Mutter vorsprechen und die längst überfälligen Handwerksarbeiten fortsetzen, die er Anfang des Jahres so plötzlich hatte liegen lassen.

Er fand sich auf dem Markt wieder, gedankenverloren und umgeben von in Zeitungspapier eingewickelten Schwertlilien, die ihre Köpfe hängen ließen. Er war gerade im Begriff Auskünfte anzustellen woher sie denn zur dieser Jahreszeit importiert wurden, da trat ein alter Mann mit grauem Hut vor ihn und stellte sich als ein Herr Zuht vor. Sein Händedruck war unerwartet stark, seine Stimme höher als zunächst angenommen. Er entschuldigte sich für seine schroffe Art, die aber weder am Anfang des Gesprächs noch am Ende dessen festgestellt werden konnte. Was er berichtete war kurzgefasst dies: Er sei von Beruf Erfinder und suche jemanden um sein wohl größtes Experiment durchzuführen. Er ging dabei nicht darauf ein in welchem Gebiet er forschte, machte aber einige geheimnisvolle und doch fesselnde Andeutungen, die einen Menschen, welcher eben die Straße entlangläuft ohne großes Ziel, vielleicht anders hätten handeln lassen als wenn er, so denke ich, verlobt gewesen wäre. Eine Frau hat nämlich eine Eigenart einem Mann etwas ein- oder auszureden, wie es nur eine Frau kann.

Marie hatte einmal die Vermutung angestellt, es sei wohl besser wenn er sein Honorar auf ein modernes Fortbewegungsmittel hinsparen würde und nicht nach Wien fahre, wie im Juni geplant.

Das Fehlen dieser kühnen oder bangen Äußerungen mag wohl einen Teil dazu beigetragen haben, dass beide Männer nach etwa zwanzig Minuten beschlossen sofort die Werkstatt des Erfinders aufzusuchen, damit man seinen Plan in die Tat umsetze, welches Ergebnis der Menschheit von großem Nutzen sein sollte und auch einen Erfolg versprach, von dem der Eine sowieso, dann auch später der Andere vollkommen erfüllt war.

Kristof dachte an das goldene Buch das ihm sein Vater zum Abschied geschenkt hatte. Er dachte daran, weil es ihn an seine Mutter erinnerte und deren Tisch der sich anstatt auf einen ordentlichen, gleichmäßig azur gestrichenen Tischbeines auf einen fünf Zentimeter dicken Schundroman stützte und jeden Besucher in Erstaunen brachte, der es einmal die knarrigen Stufen in der Eilstraße 14 hinauf gewagt hatte. Wenn er sich recht entsinnte so war außer ihm in letzter Zeit nur seine Nachbarin dort gewesen. Sie hatte in ihrer einnehmenden und doch freundlichen Art das Talent seiner Mutter zu gefallen. Das Fräulein stellte sich geschickt an und war zudem fleißig. Wenn es die Zeit erlaubte schüttelte sie deren Bettzeug in einer so filigranen und anmutigen Weise aus, welche nur von ihrem Lachen übertroffen wurde, was sie scheinbar jedes mal auflegte wenn die Sonne zu sehen war.

Diese Erinnerungen fanden ein Ende als die Luft zischte und Kristof sich in einer Dampfwolke umhüllt wiederfand. Ohne mit den Armen zu rudern, was vielleicht Menschen mit geringer Zeit und Geduld vollführt hätten, blieb er stehen und fragte in die Nebelschwaden hinein. Es schien ihm aber, als würde er seine eigene Stimme nicht mehr vernehmen und deshalb rief er zwei, dreimal lauter, machte aber keine Anstalten sich vom Fleck zu rühren, war doch die Gefahr zu groß sich an einer Tischkante zu stoßen oder auf ein Gefäß zu treten, wie er sie beim Eintritt überall herumstehend inspiziert hatte.

Schließlich löste sich die Wolke auf und er fand sich tatsächlich alleine im Raum wieder. Selbst dies verwunderte ihn nicht, er nahm sich Zeit um das was vor ihm war zu betrachten. Mattsilbrig glänzte die Apparatur in der Sonne, welche durch ein großes Dachfenster den Raum erhellte. Er sah allerlei Schrauben, fremdartig wirkenden Knöpfe und Messparameter. Da öffnete sich eine Seitentür und der Erfinder kam hastig auf ihn zu, im Laufen noch daran bedacht sich zu entschuldigen, abermals für seine schroffe Art und ebenso für sein Verschwinden. Er hätte noch etwas zu erledigen gehabt aber nun sei ja alles so wie sie vereinbart hatten und das Experiment könne beginnen. Kristof, der bis dahin zwar eine überschwängliche aber noch nicht eindeutige Zusage gemacht hatte, starrte nur nach draußen durch die Glasscheibe in den Garten. Dieser war für die Jahreszeit typisch eisig belegt, doch es ging eine unwahrscheinliche Anziehungskraft von ihm aus – denn er war groß und schön und düster. Also nickte der Kerl nur ohne den Mann anzusehen. Der Tisch kann auch ohne mich noch eine Weile wackeln, dachte Kristof bei sich. Außerdem hatten sie sich alle schon an diesen Umstand gewöhnt, Änderungen brachten nie etwas Gutes mit sich, das hatte sein Vater immer wieder gesagt bevor er gegangen war. Was würde dessen Sohn also ferner sein als den Alltag seiner lieben Mutter beeinflussen zu wollen und sie unglücklich zu machen? Und auch Marie würde er überzeugen können keinen neuen Tisch anschaffen zu müssen wie sie mit einem kritischen Auge einmal bemerkt hatte. In ihm wuchs eine Euphorie, ein Gefühl das Richtige zu tun. Es entsprang seinem Magen und wühlte sich mit nicht zu drosselnden Pferdestärken seine Luftröhre hinauf, um sich in einem halbwegs unterdrückten Laut zu äußern, der sich mit den Geräuschen quiekender Ferkel vergleichen lässt, wenn sie sich nach ihrem ersten harten Winter auf einer Wiese voller sanftem Moos wiederfinden und sich in aufgetauten, sonnengewärmten Schneepfützen suhlen. Der Erfinder lächelte einmal und begann sofort an Rädchen und Schräubchen zu drehen, immer wieder aufsehend zum Garten hin, mit einerseits besorgter mal erregter Mine. Auch die Dampfwolke stieg wieder auf, jedoch nun in scheinbar kontrollierbaren Abständen und Mengen. Da der Erfinder nicht viel sprach sah sich Kristof gezwungen nun doch etwas mehr über die Maschinerie zu erfahren. Daraufhin wiederholte der Mann nur, was er schon einmal gesagt hatte, nämlich das es für jeden einzelnen Menschen von großer Bedeutung sein würde und Gesetze neu geschrieben werden müssten, wissenschaftliche natürlich, so fügte er hinzu. Dann stutze er kurz, als der Apparat einen nicht vorher vernommenen Ton von sich gab, strahlte daraufhin aber umso mehr und befahl Kristof sich nun in die Vorrichtung zu setzen, die geradezu für ihn gemacht schien. Er ließ sich in den sperrigen Sessel sinken und ließ geschehen, wie der Erfinder ihn mit allerhand Verdrahtungen versah ohne eine Erklärung abzugeben. Als das Summen der Maschine zu einem Dröhnen, und dann zu einem Ächzen wurde und Kristof wie gefesselt an etwas gebunden war, was weder vertrauenserweckend noch ausgereift war, so rief er laut, was denn nun passiere und ob er denn die erste Person sei, an der dieses Namenlose erprobt wurde, ob schon einmal jemand dabei Schaden erlitten habe und wieso er eigentlich dafür ausgesucht worden sei, ob der Erfinder seinen Vater kenne oder dessen Empfehlung hatte, ob er zufällig ausgewählt worden sei oder nach einem Muster vorgegangen wurde, all diese Fragen die, wie eingangs bereits erwähnt, längst hätten gestellt werden sollen, gingen im Lärm der Motoren unter. Kristof sah den Erfinder vor sich, wie er behutsam einen Kupferhelm hochhob und ihm vorsichtig aufzog. Einen kurzen Moment beruhigte er sich wieder und lachte über die kindliche Panik. Dieser Mensch war ein Erfinder, kein Vollstrecker. Er versuchte Stolz zu empfinden, Stolz der Menschheit wenigstens ein kleines Opfer zu schenken, was ihm ja früher so versagt gewesen war. Doch der Helm war kalt und jeder Atemzug schwer, da nur vereinzelt Luftlöcher eingestanzt worden waren, sowie ein messerschnittgroßer Augenschlitz. Sein Puls, der ohnehin wohl schneller ging verdoppelte sich, als ein einziger, durchdringender Ton den Raum und somit ihn gefangen nahm. Er verspürte den Wunsch, beide Hände auf seine Ohren zu legen, oder einfach davonzulaufen. Zu ihr.

Er hätte ihr das Fahrrad geschenkt und sich beiden die Reise nach Wien. Sie hätten einen edlen Tisch aussuchen können und vielleicht auch ein Picknick machen können, wie sie es sich immer gewünscht hatte. Mit echtem Wein. Sie würde vor Freude Tränen in den Augen haben und er würde sein blaues Tüchlein zücken. Dann, ganz überraschend, wäre der Gegenstand, der ihn nun schon ein Jahr begleitete vor ihr liegen, herausgefallen aus jeglicher Umhüllung. Doch sie würde keine Fragen stellen, sagen, alles sei gut, ihm über die Wange streichen und fragen ob sie es denn auch einmal bei sich tragen dürfe, so lieb hatte sie es in so kurzer Zeit gewonnen.

Kristof hörte nicht, wie der Glockenton immer mehr an Härte verlor und schließlich abebbte, auch der Maschinenlärm hörte plötzlich so schnell auf, wie er gekommen war. Der Junge hatte selig die Augen geschlossen als ob er schlafen würde. Herr Zuht rief seinen Namen und als er wieder bei Sinnen war sah er in ein Gesicht voller dunstiger Perlen, wie es sich eigentlich für einen Herrn nicht schickt. „Wir haben es geschafft mein Freund.“ Das war alles was gesagt werden musste um beide glücklich zu machen. „Ich bitte Sie nur um eines, erzählen Sie zunächst niemandem davon, bevor ich meine schriftlichen Bericht abgegeben habe, was schätzungsweise in sieben Tagen sein wird. Dann dürfen Sie jedem von der Neuigkeit erzählen und sich von allen bewundern lassen. Neid aber auch ehrlich gemeinte Freude werden Ihre stetigen Begleiter sein. Aber was sage ich da, das haben Sie ja schon alles vorher gewusst, nicht wahr?“ Daraufhin nahm er ihm den Helm ab und befreite ihn von allen Drähten. Nun, da also alles getan worden war trat eine peinliche Stille ein die Kristof veranlasste Herrn Zuht für alles zu danken und ihm versprach ihn bald wieder aufzusuchen, spätestens wenn er von Wien zurückkehre. „Nun gehen Sie endlich in den Garten, ich habe doch Ihre Blicke sehen können. Halten Sie sich nur von den Vögeln fern. Sie scheinen mir unerklärlich schroff gegenüber Menschen, vor allem gegenüber all denen die, wie Sie, hier saßen.“

Doch Kristof war schon aus der Tür ins Freie getreten, sog die kalte Abendluft ein und stand so eine ganze Weile. Er wusste nicht mehr wie lange er an der Maschine angeschlossen worden war und es störte ihn auch nicht. Ihn interessierte vielmehr den durch das Mondlicht beschienenen alten Brunnen, der inmitten des Gartens unter einem Apfelbaum stand, dessen erfrorene Früchte sich auf der Erde verteilten, nebst Unmengen von abgestorbenen Pflanzen, darunter auch ein purpurfarbener Fingerhut, der den Winter aber überstehen würde. Er wollte gerade einen Blick über die Mauerkante werfen da hörte er die im Schnee knirschende Stiefel hinter sich. „Habe ich Ihnen nicht gesagt Sie sollen die armen Vögel nicht verscheuchen? Jetzt machen Sie nur dass Sie hier wegkommen Sie undankbarer Streuner!“ Mit diesen Worten scheuchte ihn Herr Zuht regelrecht von seinem Grundstück. Irritiert und aufgewühlt zugleich machte sich Kristof auf den Weg zu seiner Mutter.

Er fand sie vor dem Kamin, die Augen geschlossen und ihr Körper in einer zermürbten Haltung. Er stürzte auf sie zu, sie ließ sich umarmen und berichtete ihm recht gefasst, dass sein Vater sie heute Mittag besucht habe um seinen schicken Anzug zu holen. Zerstreut habe er gewirkt und doch entschlossen, so ihr Bericht. Er habe seinen Stock und Zylinder genommen, dass habe sie hören können, ihre Fragen unbeantwortet gelassen und sei so aus dem Haus gestürmt, wie er gekommen war. Er ließ sie in der Hoffnung zurück er würde wiederkommen, doch seitdem sitze sie nun hier. Kristof erwähnte sein Erlebnis mit keinem Wort und kümmerte sich den Rest des späten Abends nur um seine Mutter, versicherte ihr, ihr Mann würde bald wieder vorsprechen, er sei nur beschäftigt und wie froh sie sein sollten, dass er sich nicht draußen herumtreibe oder einem anderen verwerflichen Gewerbe nachgehe. Sie drückte seine Hand und entschuldigte sich, ihm nur ein verbranntes Brot für den Nachhauseweg anbieten zu können. Zum Schluss äußerte sie noch eine Bemerkung über sein Verhalten, es sei ihr, als wäre er plötzlich zu einem verantwortungsvollen Mann geworden, dem die ganze Welt offen liege. Das sprach sie zur Glut und bewegte ihre Mundwinkel dabei, denn das war alles was ihr noch geblieben war.

Die Treppen zu seiner Tür nahm er kaum mehr war, so beflügelt war er durch ihre Worte. Die Apparatur hatte nur einen Zweck haben können, ihn zu einem besseren Menschen zu machen wie es sich Marie immer gewünscht hatte. Er konnte nun all seine Männlichkeit und die brennende Sehnsucht in klare Worte fassen und obwohl er aufgeregt war, strahlte er plötzlich eine Gelassenheit aus, die einem Jungen in seinem Alter üblicherweise noch nicht zuteil gekommen ist.

Er blickte zu ihrem Garten und sah plötzlich was sie vollbracht hatte. Er wünschte sich ihr helfen zu können und ihr die schwere Arbeit abzunehmen. Ja, warum sollte er es ihr nicht gleich mitteilen? Sie würde gewiss über eine Hilfe seinerseits recht froh sein. Er öffnete das Gatter zum benachbarten Grundstück und klopfte an die Tür. Wie würde sie erst dreinschauen, wenn sie das neue Rad sehen würde? Er musste feststellen, dass weder innen noch außen ein Licht zu sehen war und ihm niemand öffnete. Doch als er sich umdrehte, da hörte er ihr Lachen. Es kam von ganz unten. Sie kletterte die Sprossen herauf, scheinbar angeheitert. Er wollte ihr entgegen stürmen und sie herzen, ihr sagen wie sie den Garten bepflanzen könnten. Doch diese Gedanken wurden von einem zweiten Lachen irritiert. Und ehe er es begreifen konnte, da standen sie schon vor ihm. Hand in Hand. Kristof brachte nicht viel hervor, noch sah er auf. Was er jedoch sah, waren diese zwei Hände, welche verschlungen ineinander die Wurzeln eines Baumes darstellten, die nicht mehr auseinander zu reißen sind. Er sah ihre feinen Schuhe, verziert mit einer Schleife rechts und links und er sah feste, teure Lederschuhe in rostbrauner Farbe. Das alles sah er bei Nacht und als er sich stammelnd entschuldigt hatte, er habe sich bei der Tür geirrt, da lachten beide wieder und konnten sich nicht beruhigen.

Als er nun alleine und in völliger Stille in seinem eigenen Zimmer saß, welches nur von einer einzelnen Kerze beschienen wurde, da hatte er sein Angesicht schon gesehen. Damals, als er das Haus übernommen hatte, wurden nicht viele Veränderungen vorgenommen. So blieb auch der neben der Tür aufgehängte, mit Goldrand verzierte Spiegel, wohl einst als teures Erbstück betitelt, hängen. Genau in diesem Spiegel sah Kristof sich heute zum zweiten und vielleicht zum ersten Mal. Was er sah, ließ ihn zu Knie sinken, ich möchte sagen er war einer Ohnmacht nahe, hätte nicht sein eigener Wille, der in ihm sehr stark verankert war, ihn nach einigen Minuten der Hoffnungslosigkeit gezwungen wieder aufzustehen. Erneut betrachtete er sein Ebenbild, oder das, was es eigentlich sein sollte. Denn er erkannte sich nicht wieder. Sah er doch aus wie der gleiche Mensch heute Morgen, so war er ein anderer geworden. Er betastete ungläubig sein Gesicht, zwickte sich in die Wangen und verschob sie in einer sonderlichen Weise, ach, es sah ja allzu albern aus, was er da vollführte. Er war sich selbst ein Fremder. Von anderen erkannt nur von sich selbst nicht. So schleppte er sich schwer atmend und zitternd auf den Dielenboden. Dort verweilend, glitten seine Hände in die Jackentaschen und plötzlich stieß er auf den gut behüteten Schatz im Tüchlein. Dieses Etwas veranlasste sein Herz wieder zu schlagen und er fand sich in tröstlicher Hoffnung wieder, doch noch dieselbe Person mit ganz eigenen Erinnerungen zu sein, dass seine heiße Tränen mit dem Kerzenwachs konkurrierend auf den Boden tropften und sich zu einem tiefen See vermischten, wie sie nur diejenigen kennen, die in der Jugendblüte einmal schweres Leid erfahren haben. Er umklammerte die Fotografie fest und innig und schmiegte sie an sein Herz als wolle er die bloße Erinnerung in sich einverleiben. Man mag Nachsicht mit mir haben, dass ich aufgrund der dunklen Stube nur schwach habe erkennen können, um wem es sich darauf handelte. Da war einerseits Marie, im gelben Kleid, strahlend wie eh und je. Neben ihr ein ebenso schönes, wenn auch traurig drein blickendes Mädchen mit schwarzen Haaren und roten Wangen. Ihr Gesicht war verblasster als alles andere, was wohl darauf zurückzuführen ist, dass Kristof das Bild immer wieder mit Küssen übersäte und es somit einem Prozess unterzog, welcher die zuständigen Professoren wohl besser erläutern können als ich. Jedoch muss man für folgende Beobachtung kein Studierter sein, denn immer wieder rief er schluchzend und freudig „Marie, Marie!“ wobei er doch nicht sie küsste.

So verstrichen die letzten Stunden seines Lebens mit Schwärmerei oder sinnloser Hingabe, ich mag es nicht zu urteilen. Fakt ist aber, dass man ihn eine Woche später auf der Straße liegen fand, erfroren im Schnee, halbnackt und wohl von Sinnen, wie einige vermuteten. Ich aber, entdeckte in einer Gasse sein blaues Tüchlein, dass er immer bei sich getragen hatte. Daneben lag die Fotografie, durchnässt von Regen. Ich ließ sie liegen und nahm das Tuch an mich da ich keine Verwendung für das Bild hatte.

Manchmal, wenn ich an dieser Stelle spazieren gehe, was ich ziemlich oft tue, fällt mein Blick auf diese kleine Seitenstraße und immer meine ich dort ein Papier liegen zu sehen. Hier möchte ich anmerken wie unverantwortlich die Menschen doch handeln, wie wenig Leute sich am Abfall anderer stören zu scheinen und den Platz nun als einen Treffpunkt der jungen Leute, bei Tag wie bei Nacht akzeptieren. Die meisten jedoch laufen vorbei, andere tuscheln und zeigen auf diesen oder jenen Fleck und vermuten eine Blutspur, und wiederum andere, meistens Auswärtige, kommen nur wegen dieser einen Fotografie, die zu meinem Groll immer noch nicht entfernt wurde. Ja, ich sehe sie noch dort liegen, wie ich auch ihn noch liegen sehe. Und jedes mal schüttele ich den Kopf über den Ausgang der Geschichte. Hatte er nicht die Aussicht auf ein neues, vielversprechendes Leben? Der Neid anderer Leute hat schon so manchen verrückt werden lassen. Aber das Geschenk was er erhielt wurde so schnell abgewiesen wie angenommen. Ich war sein Gönner, ich war sein Mentor, ich kannte ihn besser als er sich selbst.

Also umfasse ich verbittert das Tüchlein in meiner Jackentasche und möchte es gerne loswerden, in etwas hineinwerfen, das tief und tiefgründig ist. Aber ich mache es nicht und gehe stattdessen zu seiner Beisetzung. Wie sie alle weinen, das passt mir gar nicht. Charlotte, wie sie da sitzt und die Augen nicht öffnet. Sie ist so hässlich geworden, dass ich es nicht mehr aushalte und gehen muss. Als ich die Vögel am Himmel ziehen sehe, steigt meine Laune wieder und ich setze mich in eine warme Stube um zu essen. Dort bestelle ich mein Leibgericht und während ich die Glocken höre, wird mir ein dampfender Teller vorgesetzt. Ich kann ehrlich behaupten, es hat mir noch nie so gut geschmeckt.

 

copyright 2012 by Karla Kind

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